
Assistenzleistungen für Kinder außerhalb der Schulzeit
SG Lüneburg, Gerichtsbescheid vom 12.02.2025 - Az. S 38 SO 9/22
Hintergrund
In dem vom Sozialgericht (SG) Lüneburg entschiedenen Fall ging es um einen zum Zeitpunkt der Antragstellung 8-jährigen Jungen mit wesentlicher Behinderung, der mit zwei minderjährigen Geschwistern bei seinen Eltern lebte. Bei ihm lagen folgende Diagnosen vor: fragiles X-Chromosom, Intelligenzminderung und globale Entwicklungsretardierung. Er zeigte u.a. motorisch geprägte Verhaltens-auffälligkeiten, täglich nächtliche Unruhe sowie selbst- und autoaggressives Verhalten. Aufgrund seiner Behinderungen benötigte der Junge in allen Lebensbereichen Begleitung, Anleitung und Unterstützung. Ein Schwerbehindertenausweis mit einem festgestellten Grad der Behinderung von 80 und Merkzeichen H lag vor.
Der Junge besuchte eine Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung und Lernen, die mittags endete. Die Eltern sind beide in Vollzeit beschäftigt. Ein ganztägiges Schulangebot bestand nicht.
Die Eltern des Jungen stellten beim Träger der Eingliederungshilfe, stellvertretend für diesen, am 05.02.2021 einen Antrag auf Leistungen der Eingliederungshilfe (Leistungen zur sozialen Teilhabe) in Form von qualifizierter Assistenz im elterlichen Haushalt für die Nachmittage und 14tägig für die Wochenenden, sowie für die Schulferien. Insgesamt forderten sie 12,75 Stunden wöchentlich Assistenzleistungen während der Schulzeit und in den Ferien an den Wochentagen jeweils 4 Stunden.
Der Träger der Eingliederungshilfe lehnte den Antrag mit Bescheid vom 16.08.2021 mit der Begründung ab, der Kläger (Junge) benötige zunächst ein seinen Bedürfnissen entsprechendes innerfamiliäres Bezugssystem mit Tagesstrukturierung durch die Eltern. Könnten die Eltern dies nicht leisten, stünden als wirksame Eingliederungshilfemaßnahme zum aktuellen Zeitpunkt ausschließlich Assistenzleistungen in einer besonderen Wohnform zur Verfügung, da (nur) dieses Setting eine ganzheitliche Deckung seiner erzieherischen und behinderungsbedingten Bedarfe ermögliche.
Die Eltern legten Widerspruch gegen die Entscheidung ein, den der Träger der Eingliederungshilfe mit Bescheid vom 05.01.2022 zurückwies. Die Eltern erhoben am 11.02.2022 Klage.
Die Entscheidung des Sozialgerichts Lüneburg:
Das SG Lüneburg hat den Anspruch des Jungen auf die beantragten qualifizierten Assistenzleistungen im elterlichen Haushalt und einen Anspruch auf Erstattung von Kosten, die den Eltern seit Antragstellung durch Vorauszahlungen für Assistenzleistungen entstanden waren, anerkannt. Das Gericht führt in seiner Begründung aus:
Der Kläger habe neben der schulischen Förderung einen Bedarf zur Erlangung von Fertigkeiten insbesondere zur Tagesstrukturierung, zur Gestaltung sozialer Beziehungen und zur Befähigung einer eigenständigen Alltagsbewältigung, wie Sauberkeitserziehung, Essenserziehung, Überwindung von Ängsten, Spielen allein und mit anderen Kindern.
Der Träger der Eingliederungshilfe könne den Kläger nicht auf eine besondere Wohnform verweisen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sei den Wünschen der Leistungsberechtigten zu entsprechen, soweit diese angemessen seien. Bereits aufgrund des Alters des Klägers sei es fernliegend, diesem einen Auszug aus dem Familienhaushalt nahezulegen.
Der Anspruch des Klägers bestehe unabhängig von seinem Alter. Einen vorrangig geltend zu machenden Anspruch gegen seine Eltern verneinte das Gericht. Die sich aus § 1601 BGB ergebende Unterhaltspflicht der Eltern beinhalte zwar eine grundlegende medizinische und pflegerische Unterstützung. Das Maß der hier für den Kläger erforderlichen Unterstützung und Begleitung gehe jedoch weit über das hinaus, was die Eltern nach dem Gesetz zu erbringen hätten. Im Übrigen bestehe eine Unterhaltspflicht im engeren Sinne immer nur insoweit, als die Eltern leistungsfähig seien. Diese Leistungsfähigkeit sei vorliegend angesichts der Berufstätigkeit der Eltern und der weiteren im Haushalt lebenden minderjährigen Geschwister eingeschränkt.
Stellungnahme des KSL:
Die Entscheidung ist zu begrüßen. Träger der Eingliederungshilfe sehen Eltern in der Regel in der Pflicht Teilhabebedarfe ihrer schulpflichtigen Kinder mit wesentlicher Behinderung außerhalb der Schulzeit zu decken. Selbst berufstätige Eltern werden mit dieser Aufgabe allein gelassen. Das Gericht betont in dieser Entscheidung, dass berufstätige Eltern als elterliche Sorgeberechtigte nicht in der Verpflichtung sind die soziale Teilhabe ihres im minderjährigen Kindes mit wesentlicher Behinderung während ihrer Abwesenheit abzudecken.
Problematisch ist die Aussage des Sozialgerichtes, der Nachgrundsatz der Eingliederungshilfe sei gewahrt, weil die Eltern im vorliegenden Fall bereits die Leistungen der Verhinderungspflege nach dem SGB XI für die Betreuung ihres Kindes ausgeschöpft hätten. Diese Aussage suggeriert eine Nachrangigkeit der Eingliederungshilfe gegenüber der Pflegeversicherung, die tatsächlich nicht gegeben ist. Eltern müssen die Verhinderungspflege nicht zunächst ausschöpfen, um Leistungen zur Teilhabe erhalten zu können.
Zu kurz kommt in dieser Entscheidung außerdem der Aspekt der Finanzierung von Assistenzleistungen als Leistungen zur sozialen Teilhabe nach dem SGB IX. Denn diese Leistungen vom Träger der Eingliederungshilfe sind bei minderjährigen Kindern abhängig vom Einkommen und Vermögen der Eltern. Die Einkommens- und Vermögensgrenzen haben sich allerdings durch das Bundesteilhabegesetz deutlich erhöht (s. KSL-Konkret #2 Einkommen und Vermögen (104 Seiten) | KSL.NRW und Berechnungshilfe für den Eigenbeitrag bei Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX | KSL.NRW). Selbst bei Überschreitung dieser Grenzen hat sich der Träger der Eingliederungshilfe bei hohem Stundenbedarf ggf. anteilig finanziell zu beteiligen, so dass sich ein Antrag in der Regel lohnt.
Wichtig:
Bei Kindern mit ausschließlich seelischer Behinderung ist das Jugendamt für die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII (Jugendhilfe) und damit auch für Assistenzleistungen zuständig. Diese ambulanten Leistungen sind vom Jugendamt unabhängig vom Einkommen und Vermögen der Eltern zu finanzieren.
Die Entscheidung des Sozialgerichtes Lüneburg ist noch nicht rechtskräftig.
Martina Steinke, KSL Münster