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Europäischer Gerichtshof stärkt Rechte von Arbeitnehmer*innen mit Kindern mit Behinderungen - EuGH, Urteil vom 11.09.2025, Az. C-38/24

02.10.2025
Symbolbild Waage und Hammer

Europäischer Gerichtshof stärkt Rechte von Arbeitnehmer*innen mit Kindern mit Behinderungen

EuGH, Urteil vom 11.09.2025, Az. C-38/24

Die in Italien lebende Klägerin ist Mutter und Pflegeperson eines minderjährigen Kindes mit Schwerbehinderung. Sie arbeitete für eine in Italien ansässige Gesellschaft als „Stations-aufsicht“. In dieser Eigenschaft war sie für die Überwachung und Kontrolle einer U-Bahn-Station zuständig. Damit verbunden war der Einsatz an unterschiedlichen Einsatzorten und Schichtarbeit. 
Die Klägerin forderte ihren Arbeitgeber wiederholt auf, sie dauerhaft an einem Arbeitsplatz mit festen Arbeitszeiten (8.30 Uhr – 15.00 Uhr) einzusetzen, der es ihr ermögliche ihrem minderjährigen Sohn mit Schwerbehinderung die notwendige Unterstützung und Pflege zukommen zu lassen. Ihr Sohn müsse nachmittags zu festen Zeiten an einem Behandlungsprogramm teilnehmen. Der Arbeitgeber gewährte der Klägerin jeweils befristet bestimmte Anpassungen ihrer Arbeitsbedingungen, wie die Bestimmung eines festen Arbeitsorts und fester Arbeitszeiten. Einer dauerhaften Umgestaltung ihrer Arbeitszeiten stimmte der Arbeitgeber nicht zu.
Die Klage der Arbeitnehmerin gegen ihren Arbeitgeber wegen der Ablehnung dieser dauerhaften Umgestaltung ihrer Arbeitszeiten blieb in der ersten und zweiten Instanz erfolglos. Nach Erhebung einer Kassationsbeschwerde setzte der italienische Kassationsgerichtshof das Verfahren aus und legte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Fragen zur Auslegung des EU-Rechts zur Vorabentscheidung vor.

Die Entscheidung des EuGH:

Der EuGH stellt in seiner Entscheidung fest, dass das Verbot einer Diskriminierung wegen einer Behinderung auch für Arbeitnehmer*innen gilt, die nicht selbst behindert sind aber wegen der Unterstützung und erforderlichen Pflege ihres Kindes mit Behinderung diskriminiert werden (sogenannte mittelbare Diskriminierung)

Um die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Arbeitnehmer*innen und des Verbots der mittelbaren Diskriminierung zu gewährleisten, seien Arbeitgeber*innen verpflichtet, angemessene Vorkehrungen zu treffen, damit Arbeitnehmer*innen mit Kindern mit Behinderungen ihrer o.g. Fürsorgepflicht nachkommen können. Die Verkürzung der Arbeitszeit, ein anderer Arbeitsplatz und die (dauerhafte) Anpassung des Arbeitsumfeldes der Arbeitnehmerin/des Arbeitsnehmers könne eine solche angemessene Vorkehrung darstellen, sofern diese Vorkehrungen den/die Arbeitgeber*in nicht unverhältnismäßig belastet.

Rechtliche Einschätzung:

Das EuGH-Urteil stärkt die Rechte von Arbeitnehmer*innen mit Kindern mit Behinderung erheblich. Arbeitgeber*innen sind künftig stärker in der Pflicht Rücksicht auf besondere familiäre Pflichten zu nehmen und Arbeitsbedingungen entsprechend anpassen, soweit dies zumutbar ist.

Die Entscheidung des EuGH wird auch Einfluss auf die deutsche Rechtsprechung haben. Der EuGH stützt seine Entscheidung auf die allgemeine Gleichbehandlungs-richtlinie im Beschäftigungs- und Berufsrecht (2000/78/EG). Diese ist durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in deutsches Recht umgesetzt worden. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung des Verbots der mittelbaren Diskriminierung von Eltern behinderter Kinder fehlt im AGG allerdings bisher. Auch die vom EuGH zur Begründung angeführte EU-Grundrechtecharta ist in Deutschland unmittelbar rechtlich bindend.

Praxistipp für Eltern

Eltern von Kindern mit Behinderungen, die gleichzeitig Arbeitnehmer*innen sind und eine Anpassung ihrer Arbeitszeiten oder Arbeitsorte benötigen, um die erforderliche Pflege und Unterstützung ihres Kindes sicherstellen zu können, sollten die Gründe dafür gegenüber ihrem Arbeitgeber/ihrer Arbeitgeberin möglichst konkret schriftlich darlegen. Bei einer Ablehnung der Anpassungen ist zu prüfen, ob diese Ablehnung wegen unverhältnismäßiger Belastung (z.B. finanzielle, organisatorische, personelle Gründe) des Arbeitgebers/der Arbeitgeberin zulässig ist. Für diese Klärung sollte die Hilfe der Antdiskriminierungsstelle oder einer Fachanwältin/eines Fachanwaltes für Arbeitsrecht in Anspruch genommen werden.

Martina Steinke, KSL Münster