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LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.04.2022, Az: L4 KR 40/22 B ER: Auch minderjährige Leistungsberechtigte haben einen Anspruch auf Förderung der Kosten für die Anschaffung eines Kraftfahrzeuges

05.05.2025
Symbolbild Waage und Hammer

LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.04.2022, Az: L4 KR 40/22 B ER:
Auch minderjährige Leistungsberechtigte haben einen Anspruch auf Förderung der Kosten für die Anschaffung eines Kraftfahrzeuges

Hintergrund:

Als Teil der Leistungen zur sozialen Teilhabe können auch Leistungen zur Mobilität gewährt werden. Diese umfassen Leistungen zur Beförderung, insbesondere durch einen Beförderungsdienst (z.B. Taxi) und Leistungen für ein Kraftfahrzeug (Kfz). Voraussetzung für beide Leistungen ist, dass der leistungsberechtigten Person die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und Schwere ihrer Behinderung nicht zumutbar ist. Leistungen für ein Kfz werden nur erbracht, wenn Leistungen zur Beförderung nicht zumutbar oder wirtschaftlich sind. Außerdem muss die leistungsberechtigte Person das Kfz selbst führen können oder es ist gewährleistet, dass eine andere Person das Kfz für sie führt.
Leistungen für eine Kfz umfassen nach § 83 Abs. 3 S. 1 SGB IX die Anschaffung eines Kfz, die erforderliche Zusatzausstattung, die Erlangung der Fahrerlaubnis, die Instandhaltung und die mit dem Betrieb verbundenen Kosten. Die Bemessung der jeweiligen Leistungen orientiert sich im Einzelnen nach der Kraftfahrzeughilfe-Verordnung. Für volljährige Leistungsberechtigte wird bei der Anschaffung eines Kfz grundsätzlich der gesamte Anschaffungspreis bis zu einer Höhe von 22.000 € (abzüglich des Verkehrswertes eines etwaigen Altwagens) gewährt. In Härtefällen kann sogar noch ein höherer Betrag zugrunde gelegt werden.


In § 83 Abs. 4 SGB IX findet sich eine Sonderregelung für minderjährige Leistungsberechtigte. In der Kfz-Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) und in einem Gutachten des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. vom 16.01.2023 wird diese Sonderregelung zum Nachteil von minderjährigen Leistungsberechtigten ausgelegt. Es wird davon ausgegangen, dass minderjährige Leistungsberechtigte aufgrund dieser Sonderregelung anders als volljährige Leistungsberechtigte keinen Anspruch auf Leistungen zur Anschaffung eines Kfz sondern nur einen Anspruch auf den wegen ihrer Behinderung erforderlichen Mehraufwand bei der Anschaffung des Kfz haben. Ein Mehraufwand wäre zum Beispiel ein höherer Anschaffungspreis, wenn Eltern allein wegen der Behinderung ihres Kindes ein größeres und damit kostspieligeres Kraftfahrzeug benötigen. Es könnte beim Träger der Eingliederungshilfe nach Ansicht der BAGüS und des Deutschen Vereins dann nur die Übernahme der Mehrkosten für das größere Auto beantragt werden. 


Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg vertritt in seiner Entscheidung vom 07.04.2022 eine andere Rechtsansicht.


Sachverhalt: 

In dem vom LSG Berlin-Brandenburg entschiedenen Fall ging es um ein damals 9-jähriges Mädchen mit einer Schwerstmehrbehinderung verbunden mit dauerhaften Mobilitätseinschränkungen. Aufgrund dieser Behinderung konnte sie auch mit Begleitung keinen öffentlichen Personennahverkehr nutzen. Sowohl für die häufig notwendigen Termine bei Fachärzten und Fachärztinnen als auch für ihre soziale Teilhabe (Besuch von Freund*innen, Familie und Dritte, Freizeitaktivitäten) war sie ständig auf ein Kfz angewiesen. Das Kfz der Eltern war kaputt und konnte nicht mehr repariert werden. Die Eltern konnten die Anschaffung eines neuen Kfz nicht aus eigenen Mitteln finanzieren. Sie bezogen eine Erwerbsminderungsrente und Bürgergeld. Daher stellten sie als gesetzliche Vertreter*innen der Tochter beim Träger der Eingliederungshilfe einen Antrag auf Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe zur Anschaffung eines Kfz. Nach Ablehnung des Antrags und des Widerspruchs erhoben sie Klage und stellten wegen bestehender Eilbedürftigkeit beim Sozialgericht Cottbus einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. In diesem einstweiligen Rechtsschutzverfahren beantragten sie ein Darlehen zur Anschaffung eines gebrauchten Kfz in Höhe von 4000 €. Das Sozialgericht Cottbus lehnte den Antrag ab. Die Beschwerde gegen die Ablehnung vor dem LSG Berlin-Brandenburg war erfolgreich.

Die Entscheidung:

Das LSG Berlin-Brandenburg hat in diesem einstweiligen Rechtsschutz-verfahren festgestellt, dass die Antragstellerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf Gewährung der Mittel für die Anschaffung eines Kfz hat. Es hat ihr daher ein Darlehen für die Anschaffung des gebrauchten Kfz in Höhe von 4000 € als Leistung zur sozialen Teilhabe zugesprochen. 


Zur Begründung führt das Gericht aus, die Antragstellerin sei aufgrund ihrer wesentlichen Behinderung ständig auf die Nutzung eines privaten Kfz angewiesen. Ein Kfz sei in ihrem Fall auf mittlerer Sicht auch wirtschaftlicher als ein Beförderungsdienst. Leistungen zur Anschaffung eines Kfz stünden grundsätzlich auch minderjährigen Leistungsberechtigten zur Verfügung. Dem stehe auch die Regelung des § 83 Abs. 4 SGB IX in der ab dem 01.01.2020 gültigen Fassung nicht entgegen. Zwar sage diese aus, dass bei minderjährigen Leistungsberechtigten die Leistungen für ein Kfz den wegen der Behinderung erforderlichen Mehraufwand bei der Anschaffung des Kfz sowie die erforderliche Zusatzausstattung umfassten. Diese Formulierung führe aber im Umkehrschluss nicht dazu, dass die Gewährung von Leistungen für die Anschaffung eines Kfz nach § 83 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB IX für minderjährige Leistungsberechtigte damit ausgeschlossen sei. 

Aus der Gesetzesbegründung zur Einführung des zum 01.01.2020 neu gefassten § 83 SGB IX ergebe sich, dass der neue explizite Leistungstatbestand „Leistungen zur Mobilität“ dem geltenden Recht und der bisherigen Praxis entsprechen solle (vgl. BT-Drs. 18/9522, Seite 265). Nach dem bis dahin geltenden Recht habe nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aber auch für Minderjährige die Möglichkeit bestanden, im Rahmen von Eingliederungshilfemaßnahmen durch die Gewährung der Kosten der Anschaffung eines KFZ gefördert zu werden (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 12. Dezember 2013, Az. B 8 SO 18/12 R, Rdnr. 15ff). Diese Rechtsprechung sei dem Gesetzgeber auch bekannt gewesen, da er in der Gesetzesbegründung zu § 114 SGB IX (Leistungen zur Mobilität) auf die vorgenannte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Bezug genommen habe und sie beibehalten wollte (vgl. BT-Drs. 18/9522, S. 286). Die für minderjährige Leistungsberechtigte eingeführte Regelung des § 83 Abs. 4 SGB IX ergänze daher als spezifische Regelung für minderjährige Leistungsberechtigte die in § 83 Abs. 3 SGB IX zur Verfügung stehenden Leistungen zur Mobilität um den Anspruch für den Mehraufwand für die Anschaffung eines größeren KFZ und eine kinderspezifischen Zusatzausstattung, ohne den Leistungskatalog aus § 83 Abs. 3 SGB IX einzuschränken (so auch: Joussen, LPK-SGB IX, 6. Aufl., 2022, § 83 Rdnr. 6; Jabben in Beck OK Sozialhilferecht, 64. Edition, Stand 1. Sept. 2020, § 83 SGB IX, Rdnr. 4). 
 

Eine andere Auslegung des § 83 Abs. 4 SGB IX würde nach Ansicht des LSG dazu führen, dass minderjährige Leistungsberechtigte im Sinne des § 83 SGB IX, deren Eltern über kein Auto verfügten und die auch nicht die finanziellen Mittel hätten, ein Auto zu erwerben, ohne sachlichen Grund wesentlich schlechter gestellt wären als volljährige Leistungsberechtigte. Sie wären bei den Möglichkeiten der sozialen Integration benachteiligt, was nicht mit dem Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz in Einklang zu bringen wäre. Die Vorschrift sei daher verfassungskonform auszulegen (so auch von Boetticher, Das neue Teilhaberecht, 2. Auflage 2020, S. 200-202).

Praxistipp für Eltern von minderjährigen Kindern mit Behinderung:

Sollte der Träger der Eingliederungshilfe Ihren Antrag auf Leistungen zur Anschaffung eines Kfz für Ihr leistungsberechtigtes Kind mit Behinderung mit der Begründung ablehnen, diese Leistung sähe § 83 Abs. 4 SGB IX für minderjährige Kinder mit Behinderung nicht vor, begründen Sie Ihren Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid mit den hier aufgeführten Argumenten des LSG Berlin-Brandenburg.

Martina Steinke, KSL Münster