Direkt zum Inhalt

Die Überlebenden der NS-„Euthanasie“ ohne gesellschaftlichen Ort

25.03.2021

Die Überlebenden der NS-„Euthanasie“ ohne gesellschaftlichen Ort
Diskussionsveranstaltung am 7. April 2021, 19 Uhr (Zoom-Konferenz)

Überlebende der NS-„Euthanasie“, die als Zeitzeugen aufgetreten wären, sind extrem selten. Eigentlich gab es diese Sprechposition in der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht. Überlebende des Anstaltsmords, die sich kurz nach dem Krieg zu Wort meldeten, wurden bis auf sehr wenige Ausnahmen weder in öffentlichen Hauptverfahren gehört noch danach um schriftliche oder mündliche Darstellungen gebeten.

Nahe liegt es, diesen Umstand als Folge von Kontinuitäten zu sehen: Die rasch versiegende Ahndungsbereitschaft der Nachkriegsjustiz, die Geschichte der Heim- und Fürsorgeerziehung in den 1950er bis 70er Jahren, die Zustände in der Psychiatrie im gleichen Zeitraum. Parallel dazu die Karrieren vieler Protagonisten der NS-„Euthanasie“. Manchmal überlappen diese Stränge: Hans Heinze war einer der drei Gutachter der „Kindereuthanasie“, Leiter der ersten und als „Schulstation“ dienenden „Kinderfachabteilung“ in Brandenburg-Görden, in der Hunderte von Kindern einen gewaltsamen Tod starben. Nach Verbüßung einer 7-jährigen Haftstrafe, verhängt von einem sowjetischen Militärgericht, wurde er Leiter der Jugendpsychiatrischen Klinik im niedersächsischen Wunstorf. Dort betrieb er Arzneimittelstudien an Heimkindern, ohne ihr Wissen und ihre Einwilligung.

Möglicherweise handelt es sich jedoch nicht nur um ein Phänomen des Postnazismus, sondern um ein Zeiten und Systeme übergreifendes Problem: Menschen mit psychischen Erkrankungen oder geistigem Einschränkungen durften nicht darauf hoffen, dass ihre Berichte vom Überleben in den Anstalten interessieren, aber nicht nur deshalb, weil das Erzählte in den Ohren der Kinder des Wirtschaftswunders unglaublich klang – wie in anderen Fällen NS-Verfolgter auch –, sondern weil jedes ihrer Worte unter dem Vorbehalt einer Diagnose
stand.

Mit Blick auf die Geschichte der KZ-Überlebenden als Gerichts- und Zeitzeugen in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte sollen die Unterschiede zu den Überlebenden der Anstalten herausgearbeitet werden. Ist ihre Abwesenheit zu verstehen als Nachgeschichte des NS, im Sinne seines ideologischen Programms und den entsprechenden Einstellungen auf Seiten der Handelnden und Institutionen? Oder gilt es einen übergeordneten Blickwinkel einzunehmen und die Geschichte des Umgangs mit psychisch kranken Menschen, mit behinderten Menschen in der Moderne ins Auge zu fassen? Erschließt sich das Geschehen zwischen 1945 und 1980 mit Blick auf den Tatkomplex NS-„Euthanasie“ also eher über eine Kritik der Abwertung psychisch kranker und behinderter Menschen jenseits der Nachwehen nazistischer Vernichtungspolitik?

Mit
• Christoph Schneider (Kulturwissenschaftler), Frankfurt
• Katharina Stengel (Historikerin), Frankfurt
• Johannes Spohr (Autor und Historiker), Berlin
• Rebecca Maskos (Freie Journalistin und wiss. Mitarbeiterin), Berlin
Moderation: Andreas Dickerboom (Gegen Vergessen – Für Demokratie)

Zugangsdaten (Zoom):
https://us02web.zoom.us/j/85033897361?pwd=QXhrMjZjMWRlelg0VHROL2gvT1oyU…
Meeting-ID: 850 3389 7361 / Kenncode: 07527